Liebe Leserinnen und Leser, da wir seit März gezwungenerweise stationär sind, wird dieser Reisebericht, „KEIN REISEBERICHT“ sein 😊.
Dafür erzählen wir euch etwas über unseren Alltag und wie wir uns mit Corona arrangiert haben.
Wie wir bereits im Bericht 21 erwähnt haben, https://suitaontour.com/21-br-wenn-behoerden-und-corona-am-reisen-verhindert/
sind wir Ende Januar in Brasilien eingereist, haben den Carneval und die Strassenfasnacht in Rio erlebt und wollten dann bis gegen Ende April (Aufenthaltsbewilligung) hier reisen. Erstens kommt es anders und …….. kennst du ja.
Sprinti ist seit dann «im Ruhestand» – hat NICHTS mehr zu tun, denn wir hängen ja seit dann hier fest. Wäre an sich kein grosses Problem – wenn denn «Miss Corona» nicht auch Südamerika voll erwischt hätte.
Viele Reisende die wir kennen gelernt haben hängen in ganz Südamerika fest. Praktisch alle sind auf Campingplätzen, sind blockiert, können nicht mehr reisen, MÜSSEN immer am selben Ort bleiben – denn es gelten hier wesentlich heftigere Einschränkungen als bei euch in Westeuropa. VIEL heftigere Einschränkungen. Hier geht NIEMAND «einfach so mal um die Ecke einkaufen» oder macht einen Ausflug – häufig kann man nicht mal ins Nachbardorf.
Vieles ist nicht erlaubt – monatelang KEINE freie Bewegung, bis heute Anfang Oktober – und – immer wieder anders – und es keine wirkliche Verbesserung absehbar.
Freunde von uns durften durch eine neu entstandene Freundschaft mit dem Chef des Zivilschutzes des Ortes mit ihm persönlich auf einen Tagesausflug. Vorbei an mehreren Polizeikontrollen konnten sie einen kleinen Spaziergang machen. Am Abend ging es zurück – mit mehreren langen Diskussionen mit vielen Polizeibeamten an verschiedenen Strassensperren – dank dem Zivilschutzchef ging schlussendlich alles gut.
Anderen erging es wesentlich weniger angenehm. Diskussionen ohne Ende, viel Papierkram, Telefonate, weitere Abklärungen mit langen Wartezeiten. Mahnfinger. Freies Bewegen??? KEINE CHANCE.
Wir haben von vielen gelesen, dass sie – auf grosses Risiko hin – ihr Auto abgestellt haben und nach Europa geflogen sind. Wenn sie denn irgendwann zurückkommen, müssen sie unglaubliches Glück haben, wenn sie ihr Auto wiederbekommen oder mit einer horrenden Summe (4-5stellig) auslösen können. Übertreten der Aufenthaltsbewilligung des Autos ist schon häufig mit dessen ERSATZLOSEN BESCHLAGNAHMUNG ausgegangen.
Wir haben uns entschieden, dies nicht «zu wagen». Sprinti ist nicht unser Auto, sondern er ist unser Haus. Darum bleiben wir hier und suchen eine Lösung, irgendwie, irgendwann.
Wie leben wir
Wir haben uns entschieden, nicht auf einem Campingplatz leben zu wollen. Über das Netz suchten und fanden wir eine Wohnung. Nach Wochen in den Hotels von Rio «war dann mal gut». Nun haben wir plötzlich Platz – ein völlig neues Gefühl. 3 Zimmer, 2 Bäder, Wohnraum und Küche. Joly tobt sich wie «in alten Zeiten» in der Küche aus – das bekommt uns beiden, vor allem mir und meinem Körpervolumen. 😊 SIE IST DIE ABSOLUT BESTE KÖCHIN – UND ICH DER GLÜCKLICHE NUTZNIESSER.
Kaum zu glauben: unser Schlafzimmer»Fenster» ist sehr speziell. Zum Verdunkeln hat es zwei Hälften, die man links/rechts schieben kann – aus ALUMINIUM. Ein Glasfenster gibt es nur (zusätzlich) für die die eine Hälfte, die andere ist OFFEN. Es kommen also – nur durch das Alublech etwas geschützt – die Aussentemperatur und der Wind rein!!!!! Brasilianische Logik. Ich habe zwei Wolldecken vor das «Fenster» geklebt, mit sehr viel Klebband. Allerdings fallen die Dinger alle 3, 4 Tage runter, wird dann halt wieder geklebt. Bei Temperaturen in der Nacht knapp unter oder über der einstelligen Gradzahl ist es des öftern «angenehm frisch» im Zimmer 😊.
Wir sind schon viele Monate hier – und ich habe ganz 6x eine lange Hose getragen…. 😊 P. S. hier ist Winter, dann, wenn bei euch Sommer ist.
Jeden Tag wischt Joly die Wohnung mit dem Besen – eine Unmenge Staub und anderes fällt an. JEDEN TAG. So etwas haben wir noch nie erlebt. Nun erleben wir, was hier in grossen Städten alles in der Luft herumfliegt, wir einatmen, unser Alltag ist.
Klar ist es langweilig. Wir dürf(t)en nicht wirklich raus – nur zur Arbeit und für die nötigsten Verrichtungen. Schwierig, wenn du Rentner bist 😉
Doch wir gehen raus – ich (Kurt) jeden Tag, jeden. Einkaufen, den Bedürftigen Essen bringen, auch mal joggen……. einfach RAUS. Wir gehen auch öfters gemeinsam spazieren, den steilen Berg hoch, runter, einkaufen – das sind dann schnell mal 10km. Zurück geht es meist mit dem Taxi. Doch das passiert alles auf einem sehr engen Radius, immer in der gleichen Gegend. Wenig interessant – eigentlich.
DOCH: wenn man keine grossartige andere Wahl hat, dann tut man dies alles auf relativ engem Raum – und man stellt fest, dass man dem Leben dennoch so einiges abgewinnen kann. Wir wandern den Berg hoch, links weg und unvermittelt stehen wir in den Favelas. So richtig mitten drin. Wir spazieren durch die engen Gassen, die brutal steilen Wege und Strassen, vorbei an Holzhütten, die auf dünnsten Stelzen stehen und beim kleinsten Bergrutsch «das Loch runterrutschen», runter Richtung Küste. Je flacher das Gebiet wird, desto sauberer wird es, desto hübscher werden die Häuser. Und plötzlich stehen wir vor Wolkenkratzern, hübsch, sauber, modern. Bei uns würden wohlhabende Leute an den Berghängen ihre Villen bauen – hier leben sie im Flachen – an den Hängen kleben die Favelas, überall, unzählige.
Wenn wir durch diese Armengegenden spazieren, erleben wir immer wieder die grossartige Freundlichkeit der Menschen hier. Praktisch alle grüssen überaus freundlich. In den Favelas hocken die Leute beieinander, die Kinder spielen haufenweise – unten im Flachen gehen alle einander aus dem Weg, es wird kaum gegrüsst (ausser wir tun das explizit) und die Leute schauen beim Kreuzen oft auf die andere Seite. Miss Corona treibt auch hier seltsame Blüten….
Eine der häufigsten Fragen an uns: «Und, könnt ihr jetzt perfekt Portugiesisch»?
NEIN, können wir nicht. NIEMAND will mit uns wirklich reden, durch die Masken ist es ja auch nicht so einfach – Fremdsprache ohne Mimik!! – ein Unding. Alle sind sehr vorsichtig, weichen einander aus, ausser man kennt sich gut. Sprache lernen und NIE anwenden können?? Ned würkli luschtig…..
Corona-Massnahmen, Disziplin, Masken und der Umgang damit
Man trägt Maske, überall, jederzeit – und das seit vielen Monaten, seit Ende März – bis heute, Anfang Oktober (da habt ihr es etwas einfacher 😊). Dass dies im Supermarkt und in den anderen Läden obligatorisch ist, das ist sehr gut. Wird auch korrekt eingehalten, auch das Desinfizieren – wer in das Einkaufszentrum eintreten will, muss Fieber messen, dann desinfizieren – und in jedem Laden nochmals das gleiche Prozedere ….. Doch draussen, wo kein Mensch ist, wo der Wind weht – DA Maske?????? Die allermeisten schon – ich (Kurt) bin da draussen im Wind nicht maskengläubig und ziehe sie sofort aus – Joly ist etwas disziplinierter. „Lustig“ ist, dass viele Messgeräte NICHT funktionieren, 32.1 Grad anzeigen – wir werden trotzdem immer rein gelassen – diese Sache wird nur „ungefähr ernst genommen“ 🤦♂️
Dauernd werden die Regeln geändert – offen, zu, halboffen, halb zu, offen……… kein Mensch weiss wirklich, was zählt. Sehr speziell: obwohl gewisse Geschäfte öffnen dürften (ab und zu), sind auch nach Monaten die meisten geschlossen, auch Bars und Restaurants. Unsere Freunde sind Dozenten an der Uni – sie dürfen bis Ende Jahr keinen Frontunterricht mehr geben – nur per Video. Und es ist oft so, dass in einem Viertel dies und im anderen etwas anderes gilt…..
Doch als grosse Ausnahme gilt hier die Altstadt – dort sind sehr viele Leute. Ein Freund von uns hat gesagt, dass es halt so sei in Brasilien – – «Es ist ungefähr nicht erlaubt»……….. das eröffnet natürlich der «blauen Schwadron» jegliche Tür……die einen werden bestraft, die anderen nicht, die anderen zahlen «ein Trinkgeld»…….. und hier ist die «blaue Schwadron» allgegenwärtig, 3 verschiedene Polizeiarten, dazu noch das Militär, täglich Hubschrauber an der Küste. Bisher haben wir persönlich immer nur positive Erlebnisse gehabt – soll so bleiben.
Verrücktes Gesundheitswesen: direkt neben uns steht ein völlig neues, riesiges Aerztehaus mit allen Disziplinen. Es ist wie fast alle anderen ähnlichen Einrichtungen zu, total zu – seit Mitte März, auch heute noch – „bis auf weiteres“. Die Spitäler sind umgerüstet auf Corona, andere Dinge werden nur gemäss Notfall behandelt. Viele, die zum Arzt sollten, die gehen nicht resp. können nicht gehen – es wird noch Monate so sein und bleiben. In der Schweiz und Westeuropa ist dies nur zu Beginn ähnlich gewesen – hier ist es seit Mitte März Alltag. Wir haben hier nun einen Freund, der leitet ein Spital für Herzkrankheiten und -chirurgie. Sie mussten alles umrüsten für und wegen Corona – die Verluste durch die fehlenden Behandlungen und Operationen gehen monatlich in die Millionen – doch sie dürfen keinen normalen Betrieb führen. Wahnsinn. Aber so geht es im gesamten Gesundheitswesen, auch den bei den Brasilianern heiss geliebten Trainingscentren – alles zu, auch an der Küste, verboten.
Viele Frauen «walken» hier (keine hat Stöcke). NICHT draussen am Strand, nein, drinnen in der eigenen Überbauung – walken zwischen den Autos und dem Brunnen, mit Maske, oft mit zusätzlichem Schutzschild und Handschuhen……. Einfach unverständlich und verrückt. 200m weiter wäre der Küstenstreifen, ca 10-40m breit wo man auf einem Rad- und Gehweg wunderbar radeln, joggen, spazieren, walken könnte. Da ist fast kein Mensch – – unvorstellbar…. und sehr oft ist er von der Polizei gesperrt und kontrolliert …….
Schützt die Maske «etwas»? Probier mal durch eine Maske eine Kerze aus zu blasen ….. Immerhin schützt sie etwas, oder?
Und dann diese Poser, pubertierende Möchtegerns. Die erleben wir jeden Tag, wesentlich heftiger als wir es uns je vorstellen konnten. Motorradfahrer (und ich bin gerne ein Biker gewesen) mit NULL Hirn, aber vielen PS – und auch Autoposer – – grässlich – – Alltag hier. Täglich schauen wir uns an, wenn wieder einer dieser blöden Heuler vor unserem Haus durchposert – jeden Tag und bis tief in die Nacht, x-Mal. Doch das ist hier akzeptiert – da wird deswegen kein Auto oder Motorrad eingezogen wie in Westeuropa. Brasilien halt…
Zeitvertreib
Überraschung für uns selber: Seit wir in der Wohnung leben haben wir Zeit, viel Zeit. Entgegen unseren Gepflogenheiten schauen wir seit ca. 2 Monaten sogar wieder Fernsehen. Wir schauen uns Filme an. Was uns erstaunt: unglaublich viel mehr Brutalität als in Westeuropa wird hier gezeigt – ab 12 Jahren zugelassen. Filme laufen welche zeigen, wie vor allem im Drogenmilieu 8-14-Jährige erwachsene Menschen mit vielen Dutzend Schüssen ermorden. Tagesordnung. Man spricht offen darüber, dass ca 1/3 der Morde in den Favelas auf die Rechnung der Polizei geht und dass diese offen am Drogenhandel partizipiert. In den Bushaltehäuschen kleben sehr viel Blätter mit Fotos und Namen von jungen Menschen und der Überschrift: „Getötet von der Polizei“. Filme, die wir hier gesehen haben, zeigen diese Situation ungeschönt – und wieder mit der unglaublichen Brutalität, die wir uns nicht mal im Entferntesten vorstellen können. Bei uns sind identische Filme (auch Rambo) 20 Minuten kürzer – geschnitten.
Ich schaute eigentlich nie wirklich viel Fernsehen. Sehr selten habe ich einen Film komplett geschaut, die meisten immer nur sequenzweise. Nun habe ich viel Zeit – wenn Joly liest oder andere gescheite Dinge macht dann schaue ich bis nach Mitternacht und sogar ab und zu bis in den frühen Morgen TV – Schweizer TV!!!
Sendungen, die ich früher kaum je schaute, die sind nun an der Tages- resp. Nachtordnung. «SRF bi de Lüüt», Auswanderer, Heimwehmenschen, Mona Vetsch – auch Themen, die ich bisher fernsehmässig völlig ausser Acht gelassen habe. Kinderkrebs, Demenz, Asylzentrum. Was mich immer faszinierte, sind Sendungen von DOK, auch Sendungen über Wandern, Berghütten. Ich find’s spannend, es gibt viele interessante Sendungen.
Wir schauen gerne Naturfilme, Tierfilme – hier gibt es einen Sender, der ausschliesslich solches zeigt. Fantastisch, was wir alles noch nicht wissen. Viel Zeit verbringe ich mit Sehen/Hören von Gesprächen, Interviews mit Philosophen. Das fasziniert mich ungemein – oft wird es früher Morgen, bis ich mich unter die Daunendecke verziehe. Joly hat nicht immer Verständnis für mein spätes Zubettgehen, ich schon 😊. Mich faszinieren die Gedankengänge und Argumentationen dieser Menschen. Es gibt einem selber Denkanstösse, manches kann man auch mal anders sehen, anderes bestätigt sich – anderes ist einem fremd. Spannend ist es allemal – Corona hat also durchaus seine «interessanten Seiten».
Ansonsten? Bei mir läuft jeden Tag Musik (wie während den Fahrten «als wir noch reisten»). Meist Country, Blues, R&B, Rock, Pop – und wenn Joly z.B. beim Coiffeur ist auch mal die «Gröberen» (ACDC, Krokus, Golden Eearing, Deep Purple, Steppenwolf und die anderen Verdächtigen). Musik muss einfach sein. Während den häufig echt schwierigen Passagen in den Höhen von Chile, Bolivien, Peru – wenn’s echt heftig war – da haben mich diese «zarten Klänge der etwas gröberen Gilde» wunderbar begleitet. Also zolle ich ihnen jetzt in der Ruhe auch den Tribut 😊.
Wir können gleich neben uns (keine 200m) in einem Supermercado einkaufen. Täglich, auch sonntags. Die Leute hier kennen uns mittlerweile sehr gut, machen immer wieder Spass mit uns – es ist wirklich sympathisch. Es ist mir ein erklärtes Bedürfnis, jeden Tag dort einkaufen zu gehen – so habe ich «eine Ausrede», um raus zu gehen. Klarerweise verschenke ich einigen Mitarbeitern abwechslungsweise mal eine Schokolade, mal einen Sack voller Früchte, einen Blumenstrauss für deren Frau, irgendetwas. Es ist wunderbar, mit diesen Menschen Kontakt zu haben, auch wenn wir uns kaum unterhalten können.
Joly kocht «ab und zu etwas mehr als für 2 nötig wäre». Dann kommt natürlich ihre Frage: Was machen wir mit dem «Rest»? 😊 Wir füllen immer wieder mal eine oder mehrere Schalen mit Esswaren ab, legen eine Gabel (extra erstanden für solche «überraschenden» Situationen) und eine Serviette dazu. Ich gehe dann raus auf die Strassen und suche Menschen, welche die eine oder andere Mahlzeit gebrauchen könnten. Die Regel ist, dass ich «nicht allzu lange suchen» muss. Mittlerweile kennen mich viele Leute von der Strasse und rufen mich, wenn sie mich sehen…….. 😊
Die 70er Jahre holen mich ein. Zufällig lese ich ein aktuelles Interview mit einem der weltbesten Fussballschiedsrichter aus der Schweiz. Wir sind uns damals gegen Ende meiner damaligen Fussballzeit des Öftern auf dem Platz begegnet. Herrlich, wie einen die Vergangenheit wieder einholt. ER pfiff (besoffen) unser Aufstiegsspiel…. Lies und lächle 😊
Brasilien, dies und das
«Unsere Familie» (ein junges Paar), die wir längere Zeit und mit recht viel Material und Geld unterstützt haben, kommt regelmässig an unserer Haustüre und fragt nach weiterer Unterstützung. Wir haben mittlerweile den Eindruck, dass sie es sich «etwas einfach» machen und sich nicht bemühen, aus ihrer Situation raus zu kommen – darum geben wir nichts mehr. Wir haben ihnen oft geredet, nichts ändert sich. Die Frau hat vor kurzem ein Mädchen zur Welt gebracht – es lebe jetzt bei der Schwiegermutter – ein paar hundert km weg von hier. Sie betteln weiterhin jeden Tag auf der Strasse.
Auf meine Frage, ob sie denn die Sozialhilfe von 600 Reais bei der Gemeinde abholen kam die Antwort: «Nein, es ist zu kompliziert, man braucht ein Papier dafür». Wir haben uns erkundigt – ja es dauert, um dieses Papier zu bekommen – in etwa 2-3 Wochen. Dann bekämen sie das Geld.
Sie haben das Papier immer noch nicht – – nach nun mehr als 4 Monaten – – da scheint uns, dass der Antrieb «etwas gar bescheiden ist». Auch das ist Brasilien……….
Durch die Sozialhilfe (lange 600 später noch 300 Reais) wird viel gebaut…. «Kann dir der Staat nicht wegnehmen», sagen uns die Leute 😊. Allein im Juli 20 hat der Verkauf von Baumaterial gegenüber dem Vorjahr um weit über 40% zugenommen. DAS nennt man wohl «nachhaltig investieren» 😊
Man spricht in Brasilien davon, dass über 45% der Arbeitenden im so genannten «Informellen Sektor» tätig sind (machen hier über 20% des BIP aus). Das sind Strassenverkäufer, Boten, Auslieferer von Esswaren (Uber und viele andere) also Tagelöhner etc etc. In den Städten und Industrieorten ist der Anteil klarerweise etwas kleiner, doch in der Agglomeration und auf dem Land ist der Anteil der «Informellen» praktisch 100%. Das heisst im Klartext: diese Leute haben keinen Arbeitsvertrag, keine feste Anstellung, kein Einkommen wenn ……. Corona lässt grüssen. DARUM MÜSSEN diese Leute raus, Corona hin oder her, sie müssen auf die Strasse, sie müssen versuchen irgendetwas zu arbeiten – ganz einfach, NUR UM ZU ÜBERLEBEN. Das ist kein Wunschdenken, das ist ÜBERLEBEN – oder eben nicht. Sterben wegen Hunger ist das viel grössere Übel als allenfalls krank werden wegen Corona. Hier in Südamerika (Asien, Afrika……) ist das ALLTAG, da können wir in Westeuropa ganz fröhlich «gescheite Sprüche» klopfen über fehlende Hygiene, keine Disziplin etc. An den meisten Orten gibt es auch heute noch KEIN fliessendes Wasser – dafür verkaufen die grossen Lebensmittelkonzerne der USA, Europa, China den Einheimischen hier ihr eigenes Wasser…….
Apropos Uber: wir waren nie Fan dieser Firma – gilt für Europa. Hier haben wir uns erkundigt und stellen in persönlichen Gesprächen fest, dass die Bedingungen für die «Taxis» gleich gut oder eben schlecht sind wie für die angestellten Taxisfahrer. NUR: als Uber verdienen sie wesentlich mehr, weil sie viel mehr Fahrten haben…… Zudem fahren sie äusserst vorsichtig, die Autos sind sauberer, es wird viel mehr auf die Hygiene geachtet als bei den normalen Taxis!!! Da wir mittlerweile beides sehr gut kennen, haben wir uns entschieden, mehrfach die Uber-Fahrer zu berücksichtigen – zudem sind sie fast 50% günstiger als Taxis. Erlebnisse ändern ab und zu die Einstellung und das Verhalten 😊.
Wir erfahren hier, dass die Steuern recht hoch sind. Gemäss unseren Informationen zahlt niemand Steuern, wenn er weniger als CHF 6’500p.a. verdient, ab dann steigt die progressive Steuer rasch bis auf 27,5% – das ist höllisch viel mehr als in der Schweiz. Zusätzlich kommt noch die Mehrwertsteuer dazu, welche je nach Bundesland zwischen 7 -25% beträgt, im Schnitt 18%, plus 9% Sozialabgaben. Rund 40 % des Preises eines Produktes sind schlussendlich Steuern, denn in Brasilien gibt es über 100 verschiedene Steuern, viele Leute betreffen rund 54 davon ..…. In einem Gespräch mit Unternehmer vernehmen wir, dass ein Unternehmen in Brasilien gemäss einer internationalen Untersuchung rund 20x mehr Zeit verbringt, um die unterschiedlichen Steuern zu deklarieren als in Frankreich. Trotzdem sind nur gerade mal 10% Staatsangestellte (D und CH rund 14%, Frankreich 24% 😊)
Vom Lohn wird die Einkommenssteuer direkt abgezogen. Unser Unternehmerfreund machte uns ein Beispiel für einen durchschnittlich gut bezahlten Menschen: dieser bekommt z.B. 6’000Reais, ausbezahlt nach Steuern und anderen Abgaben erhält er 3’800. Die Firma kostet diese Person aber 14’000 Reais – sie muss neben den Sozialkosten z.B. auch für das Mittagessen, die Transporte etc. aufkommen!!! Eine teure Geschichte. Es gibt immer wieder Arbeitgeber, die sich nicht daran halten und den Mitarbeitern das Essen, die Wohnung, den Transport in Rechnung stellen. Gerade vor einer halben Stunde habe ich in der lokalen Zeitung gelesen (Dr. Google sei Dank), dass unweit von hier mehrere Firmen wegen diesen Vergehen angeklagt werden. Schlaumeier überall…….
Wir erleben nun den zweiten Zyklon – es windet heftig. Beim ersten hat es geregnet wie verrückt, Überschwemmungen, sogar Tote. Bei unseren Freunden hier vor Ort hat es eine Mauer eingedrückt, bei andern hat es Bäume umgelegt – und das erst noch auf das Dach. Momentan windet es heftig, viel Regen. Jä nu, in den Hochhäusern ist man recht gut geschützt – ausser es bläst wie letztes Mal die Schutzabdeckungen für die Klimaanlagen durch die Gegend.
Weit schlimmer: Seit Wochen brennt es im Pantanal (riesiges Sumpfgebiet), tausende Tiere sterben, riesige Flächen sind zerstört (mehr als 70% der Schweiz) und eben lesen wir in der Lokalzeitung, dass innert Wochen drei neue Temperaturrekorde seit über 100 Jahren gemessen wurden. Und der Präsident sagte (nachdem sein Flugzeug wegen dem Rauch nochmals durchstarten musste bei der Landung im Gebiet!!), dass es in Brasilien schon immer gebrannt habe, da sei nichts Spezielles…. Verrückte Welt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Pantanal
Allerdings steigen die Beliebtheitszahlen für Bolsonaro seit Monaten kräftig an. Im Norden, wo 98% der Leute traditionell Links gewählt haben, sind nun fast alle Pro-Bolsonaro – – „weil er während der Pandemie viel für uns getan hat“. Ich weiss, die Infos, die in Europa über ihn verbreitet werden, sagen das Gegenteil – doch es schadet wohl kaum, wenn man den Einheimischen zuhört und ihnen etwas Glauben schenkt.
Auch haben wir vom Konsul hier erfahren, dass unser Bundesrat mit 100 Vertretern der Landwirtschaft hier war und gestaunt hätten, dass Brasilien nicht mal die Hälfte an Pestiziden und Dünger einsetzt als die Schweiz und Deutschland…… das haben die Schweizer beim Schlussessen öffentlich gesagt.
Man staunt….. doch man darf durchaus wissen, dass vor allem die USA und Europa ein grosses Interesse daran haben , dass Brasilien bei den landwirtschaftlichen Produkten zurück gebunden werden – man will eben selber exportieren. Fake-News sind auch bei diesem Thema an der Tagesordnung. Vor Ort ist oft Vieles anders, als aus der Ferne „betrachtet“. Wenn du es genauer wissen willst, dann hör dir mal ein Interview an mit Brittany Kaiser (SRF Sternstunde Philosophie), sie war Chefin für Datenverwendung für Manipulationen – war auch involviert in die Trump-Wahl 2016 – du wirst staunen.
Wer informiert sein will, der muss auch andere Meinungen aushalten können – ausser man wäre dumm genug und will nur das hören, an das man glaubt. Hier zwei Beispiele, die viele überraschen werden – hier ist es aber die weit verbreitete Meinung und das hier Erlebte.
Information von der deutschen GIZ, Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit
Zwischen 2013 und 2018 wurden mehr als 150 neue Schutzgebiete im SNUC erfasst und die Gesamtfläche beträgt mittlerweile 2,5 Millionen Quadratkilometer (Deutschlands Gesamtfläche misst 357.386 km² ). Damit stieg der Anteil der terrestrischen Schutzgebiete von 15 auf 18 Prozent der Landesfläche Brasiliens und die der marinen Schutzgebiete von 1,5 auf 26 Prozent der Meeresfläche.
https://www.ecodebate.com.br/2020/07/21/sistema-nacional-de-unidades-de-conservacao-snuc-20-anos/
Von wegen, Brasilien tut nichts für den Naturschutz: Unser Freund hat auf dem Land ein landwirtschaftliches Grundstück gekauft. 25ha gross – davon darf er von Gesetzes wegen 3ha nutzen, der Rest ist geschützt. Auf einem Baugrundstück darf er 60% nutzen, sein Nachbar aber nur 20%, weil es dort mehr Bäume, Büsche und Wasser hat. Es gäbe regelmässig Helikopterflüge, welche durch Fotovergleiche Veränderungen feststellen – und es wird strafrechtlich verfolgt…… (haben wir auch nicht so gewusst).
Am 24. September 2020 wurde hier in Rio entschieden, dass die Sambaschulen Ende Februar 2021 KEINEN Carnevalsumzug durchführen werden……. Ganze 5 Monate vorher, Wahnsinn. Was das bedeuten wird für Rio und die ganze Umgebung, die Millionen Beteiligten – kaum auszudenken. Normalerweise kommen viele Millionen von Menschen in dieser Zeit hierher, mit allen Folgen. Das ist nicht «nur» ein Oktoberfest in München, eine Streetparade in Zürich, hier ist das X-fach mehr.
Fazit:
Gegenüber den Gestrandeten in Argentinien haben wir hier es recht gut. Einschränkungen ja, doch wir können und gehen raus, eben «nur ungefähr nicht erlaubt» – in Argentinien sind sie wesentlich «eingesperrter» – gut sind wir hier.
Und dann der «Winter» hier: seit Februar haben wir vielleicht an 7 Tagen eine einstellige Temperaturzahl durch die Nacht gehabt – den Tag durch haben wir oft 14-18 Grad gehabt, mehrfach 22-29 Grad, meist Sonne. Klar, viel Wind, doch mit der Wärme war er recht angenehm zu ertragen.
Und dann die Vegetation: unbeschreiblich vielfältig, immer hat etwas geblüht, wunderbare Farben. Rosen, viele Arten verschiedener Hibiskus-Sträucher und -Bäume, Weihnachtssterne und viele andere Sträucher und Bäume – einfach toll. Und auch die Vogelwelt war immer wieder ein Highlight bei unseren Spaziergängen.
Noch etwas zum Schluss:
Bisher haben wir auf dieser Reise 28x eine Grenze passiert (auch wenn wir seit Januar keinen Meter mehr fahren)
2018 sind wir rund 28’000km gefahren, haben rund 3’700 Liter Diesel und 95 Liter Gas gebraucht
2019 sind wir rund 27’000km gefahren, haben rund 3’400 Liter Diesel und 80 Liter Gas gebraucht
Reisen – etwas Fantastisches. Neue Horizonte, Kulturen, Menschen, Religionen, unterschiedliche Natur, Pflanzen, Tiere – eine unglaubliche Bereicherung. Es macht uns nicht zu besseren Menschen, sicher aber zu anderen. Wir suchen nicht, wir finden, es kommt auf uns zu und das ist einfach unbezahlbar.
Leider ist das «Reisen» viel zu billig, es ist für viele lediglich ein Konsumgut. Wo soll denn der Sinn sein vom Shopping»reisen», Kürzestflüge für 2-3 Tage in eine Stadt sein?? Für CHF 40 nach London fliegen können? «Ich habe die USA «gemacht», ich habe den Iran «gemacht» – ein richtiges Abhacken. Reisen ist für uns etwas anderes – und es braucht auch ein gutes Stück Demut, offene Augen, Respekt, Vertrauen, Toleranz, Akzeptanz, Offenheit und Unvoreingenommenheit. Ich (Kurt) finde, Reisen ist KEIN Menschenrecht, es ist ein Privileg und es muss wieder eine Wertigkeit bekommen.
Ob und wann wir wieder einen Bericht schreiben, wissen wir nicht. Keine Ahnung wie die nächsten Monate hier verlaufen.
So, nun genug geschrieben – ich muss mich nun wieder dem widmen, was ich seit Monaten tue – – – NICHTS 😊
Schau gut zu dir und den Deinen, sei vorsichtig aber auch vernünftig.
Joly und Kurt