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11 – BR – Die Wärme heisst Florianópolis

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Es war geplant, wenn wir überhaupt von «Planung» sprechen können, dass wir nach dem Süden nun den Norden von Argentinien und Chile bereisen. Es hat wieder mal geregnet und die Strassen, welche wir fahren wollen, sind nicht wirklich befahrbar => siehe Fotos. Auf dem Weg wollen wir logischerweise das Fangio-Museum besuchen, denn Fangio ist bis heute eine Legende im Bereich Automobilrennsport.

Wir fahren weiter und machen einen ungeplanten Abstecher von «ein paar Kilometer», wie wir es inzwischen nennen.

Wir möchten über Villa Epecuén fahren, eine 1921 gegründete Stadt und einst fluorierender Kurort, in welchem zeitweise auf ca. 1000 Einwohner 5000 Gästebetten kamen (Zahlen vom heimischen Tourismusbüro, Wiki hat andere Zahlen). Ziel der Touristen aus ganz Südamerika war, im See, dessen Wasser nach dem Toten Meer den zweithöchsten Salzgehalt aufwies, sich gesund zu baden.

Wir würden das auch gerne tun – doch gibt es die Stadt Villa Epecuén seit November 1985 nicht mehr!! Sie wurde infolge übermässig starker Regenfälle, Bruch der Lehmdämme und einem schlecht gewarteten Abfluss komplett überflutet. Die Stadt war über 25 Jahre bis zu 10 m unter Wasser. Wir empfehlen die detaillierte Lektüre unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Villa_Epecu%C3%A9n
Seit 2009 zieht sich das Wasser wieder zurück und gibt sehr langsam die Überreste der Stadt wieder frei. Das erste Gebäude welches wir antreffen, ist die Ruine der Schlachterei. Unsere Füsse versinken im lehmigen Boden, denn es hat auch hier eben gerade wieder mal tagelang heftig geregnet. Die Reste der Bäume zeigen ihre einst starken und tragenden Wurzeln. Ein unwirklicher Anblick! Doch das ist nur der Anfang!

Die nun wieder zum Teil sichtbare Stadt präsentiert sich in Trümmern, wie nach einem heftigen Erdbeben – nichts ist höher als 1-3 m. Wir erkennen (dank der teilweise dazugestellten alten Fotos) zerfallene Grand-Hotels, Restaurants, prächtige Herrschaftsvillen, Treppen die einst in Luxus-Suiten führten und noch vieles mehr. Die schicke Hauptstrasse, einst mit Bazaren, Restaurants, Beauty-Salons und vielen anderen Geschäften geschmückt, steht heute noch teilweise unter Wasser.  Als wir die Überreste eines Spielplatzes erreichen, können wir uns die einst spielenden und kreischenden Kinder buchstäblich vorstellen.  Was für ein Desaster….. Unmengen an Schmeissfliegen belagern die geruchsintensiven Wasserlaken und hindern uns am Weitergehen.

Unsere Knochen schreien nach den langen Kälte-Monaten definitiv nach Wärme. Wir überhören das Gejammer, lassen in Campana unseren Sprinti in der Garage etwas aufpeppen, verwöhnen uns tagelang bei meinem Cousin mit kulinarischen Leckerbissen, einem grossen bequemen Bett, einer warmen Dusche und geniessen einfach das gemütliche Beisammensein, ohne an das Weiterreisen zu denken.

Da greifen unsere Knochen zu härteren Methoden. SCHMERZEN! Und das nützt, denn Kurt macht sich augenblicklich auf die Suche nach geeigneten Destinationen. Er studiert akribisch die Klimatabelle und bald schon sind wir unterwegs Richtung Florianópolis in Brasilien. Eine Stadt, wo schon alleine der Name uns von Wärme. Griechenland, Italien, Blumen und Strände träumen lässt.

Doch bis dorthin müssen wir «einige Kilometer» (vierstellig) fahren und dürfen auf dem Weg dorthin – wiederum ungeplante – interessante Ort besuchen und spannende Begegnungen machen.

Wir fahren über Uruguay Richtung Brasilien. Um die Staatsgrenze zu überqueren, müssen immer wieder die üblichen Zollformalitäten abgewickelt werden. Nach mehr als 10 Grenzübergängen dachten wir mit Recht behaupten zu können, dass wir mittlerweile «Profis» sind.

Ablauf:
1. Immigration:
Zuerst die Abmeldung (mit Stempel im Pass) beim Verlassen des Landes, danach die Anmeldung (mit Stempel im Pass) beim Eintreten des neuen Landes
2. Adouana:
Zuerst die Abgabe der Fahrbewilligung von Sprinti beim Verlassen des Landes, danach Erstellen der Fahrbewilligung beim Eintreten des neuen Landes
3. Inspektion von Sprinti (Esswaren, Waffen etc.)

Also fahren wir auch diesmal Richtung brasilianischer Grenze und landen plötzlich auf einem grossen Parkplatz eines Einkaufszentrums inmitten der Städte Rosario auf der uruguayischen und Santana do Livramiento auf der brasilianischen Seite. «Und wo genau sind wir jetzt?» fragen wir uns. Und wo ist die Immigration? Wir fragen zwei Beamte die auf dem Parkplatz Wache halten. Sie schauen uns an als seien wir bescheuert, lächeln uns mitleidig an und zeigen mit den Fingern auf das Gebäude (Einkaufszentrum) das hinter uns steht. Aha…. und wie kommen wir dorthin mit dem Auto? Wir wollen über die Grenze nach Brasilien, versuchen wir zu erklären und realisieren, dass sie hier schon portugiesisch sprechen und wir nichts verstehen….

Você ja está no brasil, sagt uns einer davon!!! Jetzt sind wir wirklich verwirrt. Wie kann es sein, dass wir ohne Grenzkontrolle bereits in Brasilien sind? Ein Beamter hat Erbarmen und erklärt uns auf Spanisch, dass wir einfach zu Fuss (ohne Auto) zur Immigration im Gebäude gehen sollen, dort würden alle Formalitäten erledigt.

Wir gehen dorthin, sehen die zwei Schalter mit Immigration 1x Uruguay, 1x Brasilien und tatsächlich, die Ab- und Anmeldung verläuft so wie wir es bereits kennen. Allerdings ist ansonsten nichts angeschrieben – wo ist die Adouana wo wir Sprinti ab- und anmelden müssen?

Mit Fragen kommt man immer weiter, also fragen wir den brasilianischen Beamten. Wir zeigen ihm das Formular welches die Fahrbewilligung für Uruguay ausweist und erklären auf Englisch, dass wir eine Fahrbewilligung für Brasilien benötigen und ob er uns sagen kann, wo wir das Formular abgeben müssen und wo wir das neue bekommen.

Er schaut sich das Formular lange und genau an, gibt es uns wieder zurück und sagt: „Nein ihr braucht kein Formular für Brasilien. Diese Bewilligung von Uruguay genügt!“ Wir schauen ihn teils fragend, teils empört an und versuchen nochmals zu erklären, ohne ihn zu kränken, dass wir sehr wohl eine Fahrbewilligung für Brasilien benötigen. Nein, sagt er – und diesmal bestimmt – ich habe das Formular gesehen und das genügt – Punkt!

Beim Weggehen sage ich zu Kurt: Ich glaube das nicht! Kurt ist derselben Meinung. Wir müssen uns schlau machen. Also wir fragen und fragen und um es kurz zu machen…. wir müssen in einer anderen Ecke der Grossstadt zuerst zur uruguayischen Aduana um das Formular abzugeben und anschliessend – wieder an einem anderen Ende der Stadt – zur brasilianischen Aduana, wo uns die Fahrbewilligung für Sprinti ausgestellt wird………….
Der 3. Schritt, die Inspektion, findet nicht statt! Es ist hier eine andere Welt – wir sind in Brasilien angekommen!

Bestückt mit allen notwendigen Dokumenten und ein paar Stunden älter fahren wir durch den südlichsten Staat, Rio Grande do Sul, auch bekannt als Gaucho-Land. Tatsächlich sehen wir in den Städten (Rosario do Sul, Santa Maria und Rio Grande) viele Gaúchos oder Peão wie sie hier genannt werden, mit Kniebund-Hose aus Baumwollstoff, Lederstiefeln, Baumwollhemden, Halstuch, den „Chapéau“, natürlich das obligate Messer und noch ein spezielles Zubehör….. einen Helm unter dem Arm!!!! Ja, die heutigen, modernen Gauchos haben das Ross durch ein Motorrad ersetzt und die zukünftigen Gauchos trainieren das Lassowerfen mit einer von einem Motorrad gezogenen Kuhatrappe statt mit richtigen Rindern.😊

In Laguna, wo wir eine Nacht verbringen, können wir eine sehr spezielle Fischertechnik beobachten. Zuerst sehen wir nur die vielen Fischer, die gebannt im Wasser stehen als würden sie auf ein Zeichen warten. Plötzlich schreit ein Mann „Escubi!“ ein anderer schreit „Filipe!“. Da sehen wir einige Flossen Richtung Ufer schwimmen. Wir erkennen Delfine und sehen, wie alle Fischer ihre feinmaschigen Netze auswerfen.

Alles geschieht sehr schnell, die Flossen der Delfine verschwinden, und die Fischer ziehen ihre Netze mit zappelnden Fischen wieder ein. Es braucht eine gewisse Zeit bis wir überhaupt verstehen was gerade geschehen ist.

Eine seltsame Kooperation zwischen Mensch und Delfin. Die Fische werden durch die Delfine in die Enge getrieben und verlieren dabei ihre Orientierung. Einzelne Tiere werden bei dieser Jagdtechnik isoliert. In diesem Chaos machen die Delfine leichte Beute und die Fischer füllen gleichzeitig ihre Netze mit Sardellen oder mit Meeräschen, je nach Saison.

Wir sind gebannt, kein Wunder kommen wir nicht vorwärts…..

Auf dem Weg Richtung Floripa (wie die Einheimischen die Insel liebevoll nennen) machen wir noch eine andere, spezielle Bekanntschaft.
In Palmares do sul, einem kleinen Dorf mit ca. 11‘000 Einwohner, wollen wir unsere Knochen lockern und endlich einen Kaffee trinken. Auf der Suche nach einer Cafeteria fährt ein junger Mann mit dem Fahrrad neben uns und gestikuliert wild mit den Händen. Kurt und ich schauen uns an…… stimmt mit Sprinti etwas nicht oder fahren wir in einer Einbahnstrasse? Wir halten an, öffnen das Fenster und ein junges Gesicht mit breitem Lächeln fragt: „Syt dir Schwizer?“

Lukas kommt aus Solothurn und besucht hier einen Freund, den er auf seiner Weltreise kennen gelernt hat. Und so lernen wir die Gastfamilie von Lukas kennen und kommen in den Genuss einer spontanen Führung durch die lokale Reiskooperative „Palmares“, wo 120 Bauern ihre Ernte für die Weiterverarbeitung abliefern. Hier, in einer mittleren Kooperative, werden pro Jahr rund 60‘000 Tonnen verarbeitet, was rund 2‘000 Lastwagenladungen entspricht! Danach werden wir noch eingeladen, die eigene Firma des Kooperativechefs zu besichtigen. Er stellt Silos und Trocknungsanlagen her.

Anschliessend werden wir in das Haus der Gastfamilie zum Churrasco (ähnlich wie Parilla) eingeladen. Wieder einmal dürfen wir eine warme Gastfreundschaft und viel Herzlichkeit empfangen und trinken im neuen Freundschaftskreis Chimarrão (ähnlich wie Mate). Wir bleiben über Nacht im Sprinti vor dem Haus und können am Morgen im Haus wieder mal so richtig schön warm duschen. Ein tolles Leben, das wir führen dürfen!!

Eigentlich wollten wir im Dorf nur einen Kaffee trinken………Eigentlich. 😊

Wir fahren weiter – auf einer recht abenteuerlichen Strasse. Es ist die einzige hier, also eine wichtige Hauptstrasse. Doch sie ist keineswegs in einem besseren Zustand als die Ruta 2 oder 3 in Argentinien. Wir hüten uns, nachts auf diese Strecke zu fahren – die vielen riesigen Löcher und schwarzen Spuren die weg von der Strasse führen, sind deutliche Zeichen.
Auf weit über 200 km sehen wir links und rechts der Strasse Kulturen von Nadelbäumen, ähnlich unserer Föhre. Sie werden wie die Kautschukbäume am Stamm geschnitten, um das auslaufende Harz zu sammeln. Dieses wird in Rio Grande und Sao Paulo für Leim und Farbe weiterverarbeitet.

Auf Empfehlung unserer neuen Freunde, fahren wir ins Landesinnere, statt über die Rodovia 101 Richtung Norden. Je weiter wir fahren, desto hügeliger, grüner und sumpfiger wird die Landschaft. Reisfelder säumen den Weg. Es erinnert uns an Bali. Nur die Lotusblumen fehlen und die Häuser sind wesentlich luxuriöser und stehen nicht auf Stelzen.

Wir fahren durch das schöne Städtchen Nova Veneza, schlafen in Treviso und gondeln mit Sprinti über einen Pass mit 284 Kurven, als seien wir in der Schweiz. Endlich darf Kurt sich wieder mal Haarnadelkurven zu Gemüte führen – eine Wohltat für ihn nach den vielen endlosen geraden Kilometern.

Die Flora verziert sich mit wunderschönen Palmen, rotflammenden Bougainvillea, Melastoma und sonstige Pflanzen. Wir sehen Tapicuru, wilde Truthähne, Spechte, Nandus, Reier, Pelikane, Störche, Hoatzine und viele andere Tiere, von denen wir die Namen nicht kennen.

Und so gelangen wir, viel später als geplant nach Florianópolis, eine sehr moderne, saubere und reiche Stadt. Floripa ist nicht nur eine Stadt, welche zum Teil auf dem Festland, zum anderen Teil auf einer Insel ist. Floripa ist – wie uns Einheimische erklären – eine grosse Gemeinde, welche die Stadt und die Insel Santa Catarina umfasst. Die Insel ist immerhin rund 54 km lang und ca. 18 km breit und umfasst einige kleinere Dörfer. Diese sind jedoch nicht Dörfer in unserem Sinne, sondern werden als „Barrio“ von Florianopolis gezählt, also wie ein Stadtviertel. Eine andere Welt………….

Wir mieten eine kleine Wohnung im Zentrum, denn wir wollen etwa 3 Wochen lang uns die wichtigsten Dinge der portugiesischen Sprache aneignen. Dies stellt sich für Kurt als recht schwierig heraus – „Mann“ wird nicht jünger und die Aussprache ist für ihn mehr Singen den Sprechen.

Und dann die Fussball – WM in diesem fussballverrückten Land!!! Überall Fahnen, alles ist geschmückt. Natürlich wollen wir „DEN MATCH“ im public viewing vor Ort ansehen – also in der Höhle des Löwen. Ob das gut geht?????

Wir spazieren an DEN Ort, zum Mercado Publico. Natürlich ist er proppenvoll. Wir setzen uns an einen Tisch zu einem jungen Paar. Der Match beginnt.
Bei jeder Ballberührung von Neymar schreit das Publikum, erst recht bei jedem Angriff – auch wenn der Ball noch 40 m weit weg vom Schweizer Tor ist. Ein Spektakel.
Und dann das brasilianische Tor! Was für ein Lärm, was für ein Geschrei. Alle – ausser wir – springen hoch und schreien. Kurt macht gelassen ein Foto mit dem Handy. Sekunden später kommt ein Mann vom Bedienungspersonal, in der Hand einen Caipirinha. Er reicht ihn Kurt und sagt mit einem süffisanten Lächeln: „Desculpa“, er entschuldigt sich…

Beim Schweizer Tor stehe ich auf und reiche dem gleichen Herrn den noch halbvollen Cai wieder zurück und sage ebenfalls „Desculpa“. Rund herum lachen alle. Es ist ein richtig nettes Fussballfest.

So, nun geniessen wir endlich die warmen Tage, auch die handvoll Stunden pro Woche mit dem Portugiesisch lernen und melden uns dann wieder.

Até á proxima
Reisezeit: Juni 2018